Aufmerksamkeit, Beobachtung, Intuition


 Hatori    05.08.2019 - 16:27
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Viele Schüler sind genervt, wenn es immer wieder heißt, es wird Basic trainiert. Doch das hat seinen Grund.

Ein Grund liegt darin, dass jede fortgeschrittene Technik auf der Basic basiert (deswegen heisst es Basic, wer hätte das gedacht). Viel wichtiger jedoch ist die Tatsache, dass man in einem realen Kampf keine Zeit zum Denken hat. Ich demonstriere das im Training hin und wieder, wenn wieder das Aufstöhnen kommt "Och nö, das kann ich doch schon." Ich mache dann den Uke, greife härter und schneller an, als im "normalen" Training - und schon geht nichts mehr. Der Schüler sieht dann hoffentlich ein, dass er zwar weiß, wie es geht, von "können" aber noch weit entfernt ist.

Wichtiger ist aber noch, dass unter heutigen Bedingungen ein Kampf selten eins gegen eins stattfindet. Stell Dir vor, Du hast es mit zwei, drei oder noch mehr Angreifern zu tun und fängst beim ersten Angriff an nachzudenken, was zu tun ist. Glaubst Du wirklich, Du schaffst es dann, auch nur den zweiten Angriff abzufangen? Nein, schaffst Du nicht, vermutlich schlägt schon der erste Angriff bei Dir ein.
Die Technik, allem voran die Basic, muss vom Körper kommen, nicht aus dem Kopf. Deine Augen müssen überall sein, nur nicht auf dem aktuellen Angreifer. Im Moment, da Du Körperkontakt hast, muss der Körper alles andere machen, Deine Aufmerksamkeit muss beim großen Ganzen liegen, von dem Dein aktueller Gegner nur ein Teil ist. Folgt ein Angriff eines weiteren Gegners, muss das Taisabaki funktionieren, Deine Füße müssen von selbst "wissen", wohin sie sich bewegen müssen, Deine Hände, Arme, der ganze Körper darf nicht auf Befehle vom Gehirn warten, das Zusammenspiel aller Körperteile muss rein intuitiv gesteuert sein.

Um das hinzukriegen, muss zwingend die Basic im Schlaf funktionieren. Damit ist nicht nur der Kihon Happo gemeint, diese acht Formen sind eigentlich schon der zweite Schritt. In erster Linie geht es um Taisabaki (ausweichen), Kusushi (Gleichgewicht brechen), korrekte, schnelle und harte Blocks. Jede einzelne Deiner Bewegungen soll den bzw. die Angreifer beschäftigen, verwirren, ratlos machen und dem direkten Gegner Schmerzen zufügen.
Nun höre ich schon wieder "Also geht es doch um Gewalt, das ist nicht richtig, das will ich meinen Kindern nicht beibringen." Ja, es geht um Gewalt, diese hat aber ihren Ursprung nicht bei uns. DAS muss man seinen Kindern beibringen - niemals der Angreifer zu sein. Begegnet uns Gewalt, ist das einzig brauchbare Mittel eine angemessene Gegengewalt, die Betonung liegt auf "angemessen". Im Moment, da ein tätlicher Angriff erfolgt, hilft kein Reden mehr, in keinem Fall wird es helfen.

Kommen wir wieder zum Thema. Kann ich während meiner Beobachtung die Zeichen richtig deuten, schlägt meine Intuition im richtigen Moment Alarm, bin ich (hoffentlich) in der Lage, den ersten Angriff effektiv abzuwehren. Die psychologische Wirkung dabei darf nicht unterschätzt werden, auf mich selber, aber vor allem auf die Gegner, die (noch) nicht eingegriffen haben. Der erste Angriff wird meist vom "Anführer" oder vom (körperlich) stärksten Mitglied der Gruppe geführt. Hat der keinen Erfolg, ist es oft schon vorbei mit Kampf, denn im Grunde sind Angreifer in einer Gruppe Feiglinge mit Angst vor Schmerzen (wir reden hier nicht von Hooligans sondern von ordinären Straßenschlägern, die einen vermeintlich Schwächeren "abziehen" wollen). Sie wenden sich wahrscheinlich nicht gleich ab, aber sie werden zumindest zögern. Und mehr brauchen wir nicht. Es entsteht eine Lücke, die man sofort nutzen sollte - zur Flucht. Flucht ist absolut nichts ehrenrühriges (es sei denn man heißt Axel S. und befindet sich in einem Boxring, dann ist es lächerlich), sie entspringt der Vernunft und dem Wissen, dass Gewalt nichts Gutes bringt. Wenn wir uns Techniken der Togakure Ryu ansehen, stellen wir fest, dass viele davon nur einen Zweck verfolgen - sich Gelegenheit und Zeit für die Flucht zu verschaffen.

All das funktioniert aber nur, wenn ich ständig aufmerksam bin, meine Beobachtungsfähigkeit trainiert habe und sich die Intuition festigt. Schauen wir in die Welt der Tiere. Ein Reh hebt beim Fressen immer wieder den Kopf, die Ohren bewegen sich in alle Richtungen, die Aufmerksamkeit wird durch die Futteraufnahme niemals unterbrochen. Diese Natürlichkeit müssen wir uns wieder anerziehen, durch die Zivilisation ist sie uns Stück für Stück abhanden gekommen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen auf der Welt, das seine Natürlichkeit erst wieder lernen muss (stammt nicht von mir, ist eine Aussage von Hatsumi Sensei). Je mehr wir von dieser Natürlichkeit wieder für uns entdecken und nutzbar machen, desto sicherer werden wir.

Eine Möglichkeit im Training, die Aufmerksamkeit zu schulen, sind unvorbereitete "Angriffe" durch den Lehrer. Beim Herumgehen und Hilfestellung geben, sollte er sich auch hin und wieder schräg von hinten nähern und den Schüler nicht gleich ansprechen sondern ihn durch einen leichten Klaps auf sich aufmerksam machen. Ihr werdet feststellen, dass die Schüler nach und nach deutlich aufmerksamer werden und ihre Umgebung mehr beobachten. Dieser Klaps soll keine Schmerzen verursachen, er soll dem Schüler nur zeigen "Guck, hier hättest Du Dir gerade den K.O. gefangen, wäre ich ein realer Gegner gewesen." Der Schüler soll dabei zum Einen lernen, aufmerksam zu sein, zu beobachten, anderseits soll er aber auch seine Übung nicht unterbrechen sondern diese lediglich in eine andere Richtung weiterführen. Auf diese Weise nähern wir uns Schritt für Schritt der Realität an. Es ist ein langer, schwieriger Weg, es lohnt sich aber, ihn zu gehen.

Bruce Lee sagte einmal: "Vor einem Mann, der 10.000 Kicks einmal geübt hat, muss man sich nicht fürchten. Hat ein Mann aber einen Kick 10.000 mal geübt, dann ist größte Vorsicht geboten."
Viele Formen kennen macht Spaß, die Basic wieder und wieder zu üben, schützt Euch in der Realität. Kombiniert beides und Ihr werdet trotz (oder auch wegen) der Basic Spaß im Training haben. Dazu die Aufmerksamkeit, Ernsthaftigkeit und Intuition - wer sollte Euch dann noch Angst machen?

Wie so oft nach solchen Vorträgen sage ich nur noch eines: Mal drüber nachdenken.